Verletzlichkeit und Lernen zu Diskriminierung
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Katharina Debus & Iven Saadi, April 2023
Dieser Text als pdf zum Download.
Dieser Text ist eine Überarbeitung eines Vortrags-Handouts aus der Train-the-Trainer-WeiterbildungsreihePädagog_innen-Bildung zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, die wir 2018/19 im Rahmen des Projekts Interventionen für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt (www.interventionen.dissens.de) von Dissens – Institut für Bildung und Forschung (www.dissens.de) in der Akademie Waldschlösschen (http://www.waldschloesschen.org/) durchgeführt haben. Wir danken allen Kolleg*innen, Teilnehmer*innen, Förder*innen und Kooperationspartner*innen, die durch ihre ermöglichende Arbeit, inhaltlichen Anregungen, Fragen und Feedbacks zur Entstehung der hier vorgestellten Gedanken beigetragen haben. In Bezug auf inhaltliche Diskussionsprozesse möchten wir insbesondere Vivien Laumann und Andreas Hechler nennen.
Zitiervorschlag: Debus, Katharina/Saadi, Iven (2023): Verletzlichkeit und Lernen zu Diskriminierung. Anregungen und Gedanken zu Safer und Braver Spaces in der Bildungsarbeit. Online unter: https://katharina-debus.de/wp-content/uploads/Debus-Saadi-Verletzlichkeit-Bildung-Safer-Braver.pdf. |
1 Relevanz von Verletzlichkeit, Diskriminierung und Gewalt für Bildungsarbeit
Diskriminierung und Gewalt bedingen oft besondere Verletzlichkeiten bei den Menschen, die ihnen ausgesetzt sind bzw. waren. Anders als bei anderen Fragestellungen, bei denen uns eine Differenzierung wichtig ist, denken wir an dieser Stelle Diskriminierung und Gewalt zusammen, da beide zu besonderen Belastungen und Verletzlichkeiten führen können, die für Bildungsarbeit relevant sind.
Wir gehen davon aus, dass prinzipiell alle Teilnehmenden Verletzungen mitbringen. Wenn wir Adultismus mitdenken, also die Diskriminierung und das häufige Nicht-Ernstnehmen und Überschreiten der Grenzen von Kindern, sind/waren zudem alle Menschen biografisch zumindest in diesem Verhältnis negativ von Diskriminierung betroffen.
Dennoch unterscheiden sich die Widerfahrnisse abhängig von der Individual-Biografie sowie gesellschaftlicher Positionierung (also: je nachdem, in welchen weiteren Diskriminierungsverhältnissen Menschen strukturell auf der diskriminierten oder privilegierten Seite verortet werden). Darüber hinaus unterscheiden sich auch die individuellen Umgangsweisen und Wünsche an andere Menschen im Umgang mit den Verletzungen und Verletzlichkeiten.
Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnisse können im Übrigen auch zu besonderen Stärken und Kompetenzen führen, die die Betroffenen in der Regel entwickeln müssen, um die entsprechenden Erfahrungen zu verarbeiten. Diese Erkenntnis ist wichtig, um Menschen auch in ihren Ressourcen und als Akteur*innen wahr- und ernstzunehmen und sie nicht paternalistisch einzuopfern. Es geht uns dabei aber nicht darum, schlimme Widerfahrnisse schönzureden oder ihnen rückblickend einen Sinn zu geben, sondern nur darum, diesen Aspekt nicht auszublenden. Sonst besteht das Risiko, Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit, Kompetenz und Kraft zu unterschätzen und sie dadurch (wiederholt) klein zu machen. Diese Stärken und Kompetenzen werden in der Bildungsarbeit allerdings oft als weniger herausfordernd empfunden, daher fokussiert dieser Text das Thema Verletzlichkeit.
Verletzungen, Verletzlichkeiten und die verschiedenen Umgangs- bzw. Verarbeitungsweisen spielen eine Rolle im Lernen zu Diskriminierung – sowohl in der Kinder- und Jugendarbeit als auch in der Erwachsenen- sowie der Pädagog*innen- bzw. Fachkräfte-Bildung. Umgangsweisen mit Diskriminierung sind oft davon beeinflusst, welchen Umgang Menschen mit den ihnen widerfahrenen Verletzungen erlernt bzw. sich angeeignet haben. Aus unsere Sicht ist es daher ein Teil von Qualifizierung zu Bildungsarbeit im Themenfeld Diskriminierung, sich mit eigenen Verletzungen zu beschäftigen, sie einordnen zu lernen und einen bewussten Umgang mit den eigenen Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Dabei ist mitzudenken, dass Gruppen auch in dieser Hinsicht in vielfacher Weise sehr heterogen sind.
Dieser Artikel verfolgt das Ziel, zu einem bewussten Umgang mit Verletzlichkeit in der Bildungsarbeit zu inspirieren und dabei das Thema komplexer zu denken und zwischen verschiedenen Optionen des Umgangs abzuwägen. Wir werfen dafür zunächst einen Blick auf Auswirkungen von Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnissen auf Individuen (2), stellen die Konzepte von Safer und Braver Spaces gegenüber (3), treffen daraus Ableitungen für die Bildungsarbeit (3) und schließen mit einem Resümee (4).
2 Auswirkung von Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnissen auf Individuen
Disclaimer: Wir bedienen uns in diesem Teil bei Anregungen aus der Psychologie und Trauma-Therapie. Dabei sollte mitgedacht werden, dass wir uns mit diesen Aspekten aus der Perspektive der Bildungsarbeit zu Diskriminierung beschäftigt haben und keine Expert*innen in den vorgenannten Feldern sind.
Menschen erleben Diskriminierung und Gewalt auf ganz verschiedenen Ebenen. Dazu zählen körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt ebenso wie unter anderem kulturelle, institutionelle, ökonomische und rechtliche Diskriminierung und Gewalt und deren transgenerationale Auswirkungen auch auf Kinder, Enkel etc. der Betroffenen.[1]
Im Folgenden gehen wir exemplarisch auf Mikro-Aggressionen ein, da dieses Thema in der hiesigen Debatte relativ neu verhandelt wird und wir den Ansatz als sehr hilfreich empfinden, um das Thema heterogene Verletzlichkeit in Lerngruppen unter Bedingungen von Diskriminierung zu erfassen und entsprechende pädagogische Strategien zu entwickeln.
2.1 Mikro-Aggressionen
Das Konzept der Mikro-Aggressionen wurde in den 1970er Jahren vom Schwarzen US-amerikanischen Psychiater Chester Pierce (1970; 1974) zur Beschreibung der Erfahrungen von durch Rassismus Betroffenen vorgeschlagen und insbesondere in den letzten zehn Jahren systematischer in der sozialwissenschaftlichen sowie psychologischen Theoriebildung und Forschung entfaltet und auf weitere Themenfelder angewendet. Damit werden Ausprägungen bzw. Ausdrucksformen von Diskriminierung beschrieben, die eher subtil, uneindeutig und weniger greifbar erscheinen als eindeutige Beleidigungen, physische Gewalt etc.: Mikro-Aggressionen sind die „alltäglichen, beabsichtigten und unbeabsichtigten, verbalen, non-verbalen und durch die gesellschaftliche Umgebung ausgedrückten Erniedrigungen, Abwertungen und Beleidigungen, die feindliche, abwertende oder negative Botschaften an Personen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe kommunizieren“ (Sue 2010; Übersetzung Iven Saadi). Solche subtilen oder verdeckten Botschaften können z.B.:
- die Gruppenzugehörigkeit oder das Erleben der betroffenen Person entwerten
- unterstellen bzw. markieren, dass sie nicht zur Normgruppe gehört
- ihr einen spezifischen und eingeschränkten Aufgaben-/Zuständigkeitsbereich zuweisen
- sie auf einer individuellen oder kollektiven Ebene herabwürdigen
- kommunizieren, dass sie weniger ernst zu nehmen sei
- ihre Selbstbestimmung einschränken
- sie bedrohen und einschüchtern
- ihr einen schlechteren Status und eine schlechtere Behandlung zuweisen.
In der Bildungsarbeit arbeiten wir gerne mit dem folgenden Video, um einen ersten Einstieg ins Thema Mikro-Aggressionen zu bieten: Comedy, Fusion (2016): How microaggressions are like mosquito bites. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=hDd3bzA7450. Das Video zieht eine Analogie zu Mückenstichen, unter anderem in dem Sinne, dass Menschen, die nur ganz gelegentlich mal einen einzelnen Stich abbekommen, oft nicht nachvollziehen können, wie belastend es sein kann, von morgens bis abends ständig gestochen zu werden.
Während einzelne Mikro-Aggressionen sich nicht notwendigerweise stark niederschlagen müssen, können sie für Betroffene gerade durch ihre Kontinuität, Unabsehbarkeit und Allgegenwärtigkeit schwerwiegende Folgen bewirken (vgl. hierzu z.B. Nadal 2018; Soto et al., 2011; Torres et al 2010).
Beispiele der möglichen Auswirkungen von Mikro-Aggressionen auf Diskriminierte:
- allgemeine Gesundheit – größeres Risiko von:
- StressbelastungAngstzuständenDepressionenreduziertem Selbstwertgefühlgeringem Selbstwirksamkeitsgefühlstärkerem physischem Schmerzerleben
- Traumatisierung bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen
- spezifisch bildungsbezogen – größeres Risiko von:
- Erschwernis des Einlassens auf Lerninhaltegeringerer Konzentrationsfähigkeit
- Distanzierung in/von Bildungssettings (stiller innerer Rückzug, aber auch Fernbleiben aus Bildungssettings)
2.2 Verletzlichkeit und Trigger
Mikro-Aggressionen und andere Widerfahrnisse von Diskriminierung und Gewalt können also Spuren hinterlassen. Unter anderem können sich Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnisse in einer erhöhten Verletzlichkeit von Menschen niederschlagen oder auch in Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen.
Als Grundlage für Fragen der Bildungsarbeit teilen wir hier kurz Arbeitsdefinitionen zu Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen, bevor wir auf das Thema Trigger eingehen:
(Psychisches) Trauma: Belastendes Ereignis oder Situation, die von der betroffenen Person nicht verarbeitet werden kann. Dabei kann es um körperliche oder psychische Auslöser gehen, von Unfällen über Naturkatastrophen bis zu psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt oder auch Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen.[2] Es kann sich dabei um direkt gegen die eigene Person gerichtete oder um beobachtete bzw. miterlebte Ereignisse handeln.[3]
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Ein Trauma kann – muss aber nicht – zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen, also einer im Nachhinein auftretenden psychischen Reaktion auf ein traumatisches Ereignis. Dieses Risiko ist besonders groß bei Traumata, die durch Menschen hervorgerufen wurden. Eine PTBS kann mit unterschiedlichen psychischen und psychosomatischen Symptomen einhergehen, u.a. Erinnerungen an das Trauma, Flashbacks, Angstträume, sogenannter ‚Übererregbarkeit‘, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Wachsamkeit/Hypervigilanz, Schreckhaftigkeit, emotionaler Stumpfheit (numbing), Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit, Vermeidungsverhalten, Gedächtnislücken, Hilflosigkeitsgefühle und Erschütterung des Ich- und Weltverständnisses.[4]
Exkurs 1: Trigger
Im Trauma-Kontext meint Trigger (deutsch: Auslöser) etwas, das z.B. einen Flashback auslösen kann, also ein unkontrolliertes Erinnern (eines Aspekts) einer traumatischen Situation. Trigger in diesem Sinne sind oft unwägbar, es kann sich um einen Geruch handeln, einen optischen Eindruck, ein Wort, eine Geste, eine Interaktion etc.
Da Trigger auf Englisch jenseits der Trauma-Bedeutung auch einfach ‚Auslöser‘ bedeutet und triggern folglich mit ‚auslösen‘ übersetzt werden kann, gibt es eine Bedeutungsvermischung. Im Kontext der Debatten um diskriminierungs- und gewaltsensibles Handeln werden die Begriffe ‚Trigger‘ und ‚triggern‘ zum Teil auch verwendet um etwas zu beschreiben, das schlechte Gefühle auslösen, Schmerz und unangenehme Erinnerungen, Traurigkeit oder Wut aktivieren bzw. an Diskriminierung erinnern kann, ohne im engeren Sinne ein Trauma-Trigger zu sein.
Im Unterschied zu der Unwägbarkeit von Trauma-Triggern suggeriert diese Debatte, dass Trigger durch diskriminierungssensibles Handeln vermeidbar seien. Triggern wird in diesem Kontext zum Teil gleichgesetzt mit einem In-Erinnerung-Rufen von Diskriminierungs- bzw. Gewaltwiderfahrnissen, u.a. auch durch das Benennen (und damit Wiedergeben) diskriminierender Worte oder Ähnlichem.
Wir raten dazu, zu unterscheiden zwischen dem Triggern im Kontext posttraumatischer Belastungsstörungen und dem anderweitigen Aufrufen unangenehmer Gefühle, Erinnerungen und Themen. Nicht, um diese zu bagatellisieren, sondern weil es sich um andere Funktionsweisen handelt, aus denen auch andere Umgangsweisen folgen sollten. Wir sprechen daher, wenn es nicht um Trigger im Trauma-Sinne geht, eher von auslösen, antickern oder z.B. auch ‚auf einen schlechten Film bringen‘ und entsprechend auch eher von Content Warnings (Inhaltswarnungen) anstatt Triggerwarnungen. Noch lieber stellen wir aber einfach Transparenz über das her, was in der folgenden Einheit passiert, ohne durch Worte wie ‚Warnung‘ möglicherweise erhöhte Alarmbereitschaft bzw. Verletzlichkeit auszulösen (mehr dazu unten).
Wir sprechen daher, wenn es nicht um Trigger im Trauma-Sinne geht, eher von auslösen, antickern oder z.B. auch ‚auf einen schlechten Film bringen‘ und entsprechend auch eher von Content Warnings (Inhaltswarnungen) anstatt Triggerwarnungen. Noch lieber stellen wir aber einfach Transparenz über das her, was in der folgenden Einheit passiert, ohne durch Worte wie ‚Warnung‘ möglicherweise erhöhte Alarmbereitschaft bzw. Verletzlichkeit auszulösen (mehr dazu unten).
Exkurs 2: Coping-Strategien bzw. Bewältigungsstrategien und -mechanismen
Menschen können ganz verschiedene Umgangsweisen mit Gewalt- und Diskriminierungswiderfahrnissen entwickeln. Diese können bewusst oder unbewusst entstehen. Einige Beispiele:
- Vermeidung/Selbstschutz bzgl. Situationen, die an das Erlebte erinnern könnten, Haltung der Vorsicht => Gefühl akuter Gefahr verhindern/reduzieren
- Wiederaufsuchen und Wiederholung ähnlicher Situationen (möglicherweise in der unbewussten Hoffnung, eine positive Gegenerfahrung zu machen)
- Abhärtung gegenüber dem Thema der Verletzung
- dem Thema die Macht nehmen, unter anderem durch Konfrontation (sich selbst oder andere mit dem Thema konfrontieren), viel drüber sprechen, verletzende Begriffe immer wieder verwenden, um sie ‚abzunutzen‘ und ihnen den Schrecken zu nehmen, Normalisierung der Auseinandersetzung mit dem Thema der Verletzung
- umdeutende bzw. empowernde Aneignung (ehemals) verletzender Sprache und/oder Worte
- Einordnung & Analyse des Erlebten, u.a. um durch Verstehen Verfügung (im Sinne von Handlungsfähigkeit) zu erlangen
- Internalisierung von individueller Verantwortung & Schuld bzgl. der Widerfahrnisse
- Selbstablehnung/Selbsthass
- Versöhnung, um loslassen zu können und ggf. auch um wichtige nahe Beziehungen nicht aufgeben zu müssen
- Integration des Erlebten
- Betonung der eigenen Verantwortung mit dem Ziel, Ohnmacht zu überwinden und sich handlungsfähig zu fühlen, um entsprechende Widerfahrnisse in der Zukunft zu vermeiden
- die eigene Verletzlichkeit anerkennen und Self-Care-/Selbstsorge-Strategien anwenden
- die eigene Stärke und Resilienz in den Mittelpunkt stellen
- Verdrängung bzw. Abspaltung
- victim blaming (also: die Betroffenen verantwortlich machen bzw. Täter-Opfer-Umkehr) gegenüber anderen, denen ähnliches passiert (ist), u.a. als mögliches Resultat von (Bemühungen um) Verdrängung bzw. Abspaltung oder der Betonung von Eigenverantwortung
- Normalisierung des Widerfahrenen
- Wut bzw. Hass gegenüber den verletzenden Personen/Strukturen
- Wut bzw. Hass gegenüber Dritten, u.a.
- weniger mächtigen Personen/Strukturen
- Menschen, die das Verletzende in Erinnerung rufen, u.a. Bildungsarbeiter*innen; Menschen, die von eigenen Opfer-Erfahrungen sprechen oder Menschen, die z.B. Diskriminierung oder rape culture kritisieren
- Menschen, die durch ihre Äußerungen oder Handlungen Strategien von Normalisierung oder der Betonung von Eigenverantwortung unterlaufen
- Sehnsucht nach Retter*innen
- Suche nach Anerkennung bzw. Validierung für eigene Verletzungen, Wahrnehmungen und Deutungen, beispielsweise durch
- Menschen, denen Ähnliches widerfahren ist/widerfährt,
- Autoritäten
- Menschen, die denen ähneln, die die Verletzung ausgelöst haben (u.a. als Gegengewicht gegen die schlechte Erfahrung)
- Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (u.a. um sich nicht alleine zu fühlen, um durch den gegenseitigen Austausch Dinge besser verstehen und einordnen zu lernen, ggf. auch für organisierte Selbsthilfe, Empowerment oder politische Organisierung)
- Empowerment durch Resonanz & Verbündung mit anderen Menschen mit ähnlichen Widerfahrnissen, unter anderem auch durch die Gestaltung von Empowerment-Räumen
- Kampf um die politische Veränderung von Strukturen, u.a. durch Organisierung
- Wunsch oder Forderung an andere Menschen, das Vermeiden/den Selbstschutz zu unterstützen, indem sie ebenfalls Dinge unterlassen, die Schmerzhaftes in Erinnerung rufen könnten
- andere Menschen in Verantwortung nehmen, u.a. als Ausstieg aus der Internalisierung der Verantwortung (also Ausstieg aus gegen sich selbst gerichtetem victim blaming)
Diese Coping-Strategien können in Konflikt miteinander geraten. Leicht richtet sich dann die Wut gegen Menschen mit anderen Coping-Strategien. In der Antidiskriminierungs-Debatte passiert es immer wieder, dass Menschen mit anderen Strategien als den eigenen bzw. denen, die gerade Konjunktur haben, sehr schnell als politische Gegner*innen wahrgenommen werden, anstatt erst mögliche Gemeinsamkeiten und Grenzen auszuloten. Das kann zu viel gegenseitigem Schmerz und der Verschärfung belastender bzw. traumatischer Erfahrungen führen und erschwert Bündnisse, die für politische Veränderungen notwendig wären.
2.3 Erste Konsequenzen für die Bildungsarbeit
Auch Menschen mit Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnissen sind vielfältig. Sie/wir brauchen nicht alle dasselbe und es gibt nicht die eine Strategie, die richtig ist für alle Betroffenen. Während für manche Betroffene Triggerwarnungen bzw. Content Warnings (Inhaltswarnungen) und Vorsicht genau richtig bzw. zumindest erwünscht sind, unterläuft ein spürbar vorsichtiges, warnendes bis vermeidendes Herangehen die Coping-Strategien anderer Betroffener durch das ständige Wiederaufrufen von Verletzlichkeit, anstatt Stärke und Resilienz zu betonen. Zudem kann für nicht wenige Betroffene, abhängig von der je individuellen Bewältigungsstrategie, der Aufruf zur Vermeidung dem Wunsch im Wege stehen, einen selbstverständlich aneignenden Umgang mit den schmerzauslösenden Themen zu üben, und sich eventuell auch wie eine Wiederholung von Druck zu Verheimlichung und Verschweigen anfühlen.
3 Safer Spaces versus Braver Spaces
In unserer Wahrnehmung werden in der diskriminierungskritischen Debatte derzeit Safe-Space- bzw. Safer-Space-Konzepte betont. Wir bevorzugen unter diesen beiden Begriffen die Idee eines Safer Space, also eines sichereren Raums, da wir davon ausgehen, dass komplett sichere Räume (safe spaces) nicht möglich sind und falsche Versprechungen leisten.
Safer-Space-Ansätze wurden historisch u.a. in feministischen und schwul-lesbischen Bewegungen (wir legen hier aufgrund des Projektkontextes den Fokus auf geschlechterpolitische Räume) mit dem Ziel entwickelt, von Diskriminierung betroffenen Menschen gemeinsame Schutz-, Rückzugs- und Austauschräume zu verschaffen. Dabei hat das Verständnis dieses Konzepts in unserer Wahrnehmung einen Wandel durchgemacht. Wir erinnern aus früheren Zeiten eher Verständnisse, in denen in diesen Räumen durchaus auch Auseinandersetzungen mit schmerzhaften Themen und in Bezug auf Differenzen miteinander als wichtiger Aspekt mit angelegt waren. In aktuellen Diskursen fokussieren aber in unserer Wahrnehmung Safer Spaces meist achtsame Umgangsweisen mit möglichen Verletzungen und Traumata der Nutzer*innen der Räume. Sie regen dazu an, vorsichtig und sorgsam miteinander umzugehen und Dinge zu vermeiden, die Verletzungen aufrufen könnten. Sie entsprechen unter den oben genannten Coping-Strategien eher selbstschützenden und vermeidenden Strategien – auf deren Grundlage dann einige der anderen Strategien zusätzlich möglich sein können.
Wir wollen das mit einem Konzept von Braver Spaces (also mutigeren Räumen) ins Verhältnis setzen, welches in den letzten Jahren vor allem in den USA[5] in diskriminierungskritischen aktivistischen und pädagogischen Kontexten in Auseinandersetzung mit bzw. als Weiterentwicklung von Safer-Space-Ansätzen entwickelt wurde. Braver Spaces sind in diesem Sinne Räume, die die Nutzer*innen dazu ermutigen wollen, sich bewusst aus der Komfortzone herauszubewegen und Risiken einzugehen in der Hoffnung auf transformative Lernerfahrungen (s.u.). Das ist aber dennoch weit entfernt von laissez-faire, „alles geht“. Auch Braver Spaces sind diskriminierungskritische Räume, in denen ein achtsamer Umgang mit Diskriminierung stattfindet. Der Fokus wird nur etwas stärker auf einen aktiven Umgang mit Differenzen oder schmerzhaften Themen etc. verlagert und auf Lernen in diesen Differenzen in dem Bewusstsein, dass dabei bei bestem Bemühen auch schmerzhafte Fehler geschehen können, und in dem Wissen, dass all das den Raum etwas weniger sicher in Bezug auf z.B. schmerzhafte Gefühle macht (siehe ausführlicher unten).
Mit dem Begriff transformatives Lernen (der in anderen Kontexten auch ganz anders verwendet wird) meinen wir ein Lernen, das die Beschädigungen, die wir durch Diskriminierung und Gewalt erfahren haben, nicht bestehen lässt und sich dann (z.B. vermeidend oder abstumpfend) darum herum organisiert. In transformativen Lernerfahrungen ist stattdessen z.B. durch produktive Konfrontation, positive Gegenerfahrungen, Handlungsfähigkeit, Erholung etc. eine Verarbeitung von und Wachsen über diese Beschädigungen hinaus möglich.
Kolleg*innen aus der Forschung zu sexualisierter Gewalt (Malte Täubrich und Mart Busche) haben uns, als wir den ersten Entwurf dieses Inputs entwickelt haben (2019) davon berichtet, dass sie analog zur Gegenüberstellung von Safer und Braver Spaces auch an den Begriffen ‚Culture of Care‘ und ‚Culture of Dare‘ herumgedacht haben.
Wie sich in unseren Fortbildungen in der Zwischenzeit gezeigt hat, scheint es nicht selbsterklärend zu sein, dass wir die Begriffe ‚safer‘ und ‚braver‘ wertfrei meinen. Wir finden Mut nicht grundsätzlich besser als den Wunsch nach Sicherheit vor Verletzungen bzw. Selbstsorge und Care. Aus unserer Sicht sind das androzentrische Sichtweisen (von griechisch andras: der Mann), also Sichtweisen, die das, was gesellschaftlich als männlich konstruiert wird (z.B. Mut, Heldenhaftigkeit, ein ‚dickes Fell‘) höher bewerten als das, was gesellschaftlich als weiblich konstruiert wird (z.B. ernstnehmen von Verletzlichkeit, Wunsch nach Sicherheit vor Verletzungen, Fürsorglichkeit). Es geht uns nicht darum, eines der Konzepte höher zu bewerten als das andere (auch wenn wir persönlich für Lernräume Präferenzen haben, die u.a. mit unseren eigenen Bewältigungsstrategien zusammenhängen, aber auch mit unseren Verständnissen von Lernprozessen), sondern darum, bewusster zwischen verschiedenen Möglichkeiten und ihren Potenzialen und Konsequenzen abzuwägen, wenn ein konkreter (Lern-) Raum (auf)gebaut wird.
Im Folgenden eine kurze Gegenüberstellung von Safer-Space- und Braver-Space-Konzepten:
Safer Spaces können u.a.:
Braver Spaces können u.a.:
- die Wahrscheinlichkeit schmerzhafter diskriminierungsbezogener Widerfahrnisse verringern
- dadurch u.a. diskriminierungsbezogene Stressbelastungen (Diskriminierungs-/Minderheiten-Stress) reduzieren und zu einem größeren Sicherheitsgefühl der Anwesenden beitragen
- mehr Kontrolle über die Auseinandersetzung mit schmerzhaften Themen verschaffen
- Einlassen und Konzentration auf Lernen erleichtern, wenn es nicht ständig nötig ist, schmerzhafte Erfahrungen abzupuffern und zu verarbeiten bzw. in Hab-Acht-Stellung zu sein, weil die jederzeit geschehen könnten
- der Vereinzelung von Menschen, mit bestimmten Diskriminierungs- bzw. Gewaltwiderfahrnissen, entgegenwirken (u.a. wenn Räume um eine bestimmte gemeinsame Form der Diskriminierungserfahrung herum strukturiert sind)
- zu Empowerment unter Menschen mit ähnlichen Diskriminierungs- bzw. Gewaltwiderfahrnissen beitragen, u.a. durch alle folgenden Punkte
- einen geschützteren und anerkennenderen Raum bieten im Umgang bzw. für die Auseinandersetzung mit individuelle(n) Verletzungen und für die Entwicklung und den Austausch von Wahrnehmungen und Deutungen von diskriminierungsbezogenen bzw. Gewaltwiderfahrnissen
- den Austausch und das Finden einer gemeinsamen Sprache über Diskriminierung bzw. Gewaltwiderfahrnisse erlauben mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, und so zu einem gemeinsamen Consciousness-Raising beitragen (Begriff der 2. Welle der nordamerikanischen Frauenbewegungen: durch Austausch individueller Erfahrungen verstehen, was daran systematisch mit gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen verbunden ist; emotionale Resonanz durch Austausch mit Menschen mit ähnlichen Erfahrungen; eine Sprache, Theorie und Handlungsfähigkeit zu diesen Erfahrungen entwickeln)
- Erfahrungen von Bündnissen und Solidarität gegen die erlebte Diskriminierung ermöglichen, u.a. unter Menschen mit ähnlichen Erfahrungen
- dabei u.a. auch Alternativen des Umgangs untereinander erarbeiten, wenn die Betroffenen in anderen Räumen häufig in Konkurrenz um die Zuwendung oder Akzeptanz der Privilegierten gesetzt werden (z.B. Arbeit an solidarischeren Umgangsweisen unter Frauen oder unter trans* Menschen)
- das Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit verringern und zu Empowerment beitragen
- transformatives Lernen ermöglichen, indem Anwesende die Erfahrung machen, sich verhältnismäßig sicher und gehalten und in ihrer Verletzlichkeit gesehen zu fühlen – das kann transformativ Erholung und Heilung ermöglichen
- und indem sie erleben, dass sie verletzende Dinge fernhalten/reduzieren und Räume gegen sie verteidigen können – das kann transformativ Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen
- mehr Transparenz darüber herstellen, dass es angesichts der Komplexität von Diskriminierungsverhältnissen und ihres Zusammenspiels nicht möglich ist, sichere Räume zu schaffen – falsche Versprechungen von Sicherheit vermeiden und einen aktiven Umgang damit befördern
- die Anerkennung dafür fördern, dass das Lernen zu und die Überwindung von Diskriminierung für alle erfordert, sich Auseinandersetzungen zu stellen, die risikobehaftet und unbequem sind und Unwohlsein hervorrufen können, sowohl um eigene transformative Prozesse als auch bessere Analyse und Veränderungsstrategien zu ermöglichen
- Mut, Stärke und Bewältigungsressourcen in den Vordergrund heben
- dabei unterstützen, einen aktiven, konstruktiven Umgang mit Traurigkeit, Schmerz, Wut, Unsicherheit und Unwohlsein zu entwickeln und üben
- von Harmonie- und Konformitätsanforderungen entlasten, u.a. indem sie das Wissen darum befördern, dass, wenn Menschen zusammenkommen, die unterschiedliche Betroffenheiten und/oder Auseinandersetzungsgeschichten und/ oder Bewältigungsstrategien haben, es immer zu Differenzen kommen wird und dass diese schmerzhaft sein können, aber nicht bedrohlich sein müssen – die Herausforderungen im Umgang mit diesen Differenzen nicht als Problem framen, sondern gerade auch als notwendigen Aspekt der Anerkennung von Differenz
- die Anerkennung dafür fördern, dass Differenzen in Meinungen zu und Umgangsstrategien mit Diskriminierung schmerzen können, dass sie aber dennoch wertvoll sein können und dass Unterschiedlichkeit nicht das Gleiche sein muss wie Gegner*innenschaft, auch wenn sie herausfordern kann
- die Aufmerksamkeit dafür fördern, dass schmerzhafte ‚Fehler‘ in Lernprozessen zu Diskriminierung zwar reduziert werden sollten, aber nicht immer vermeidbar sind, erst recht nicht in heterogenen Räumen (auch heterogen nach Vorwissen, nicht nur nach Diskriminierungserfahrungen) und dass diese Fehler nicht immer/allein auf Fragen von beispielsweise Schuld oder Privilegienabsicherung reduzierbar sind
- in einem wohlwollenden und achtsamen Kontext den Umgang mit all diesen Herausforderungen üben und dabei idealerweise Konflikten und Differenzen nach und nach Bedrohlichkeit nehmen
- u.a. durch die vorgenannten Aspekte und durch die Raumzusammensetzung Bündnisse zwischen Menschen mit verschiedenen Positionen und Erfahrungen befördern – sowohl als persönliches Unterlaufen gesellschaftlicher Trennungen und Hierarchisierungen als auch mit politischer Veränderungsperspektive (u.a. institutionelle Veränderungen, Organizing, Bündnisse in sozialen Bewegungen etc.)
- transformatives Lernen ermöglichen, indem die Anwesenden sich Herausforderungen stellen und in einem relativ gut gehaltenen Rahmen ein gewisses emotionales Risiko eingehen (z.B. durch Auseinandersetzung mit schmerzhaften Themen und/oder mit Menschen, die Dinge anders erleben, anders sehen/verstehen, andere Umgangsweisen haben etc.) mit der Chance, darin gute Gegenerfahrungen zu früheren Erlebnissen zu machen
- und indem sie erleben, dass möglicherweise verletzende Dinge ihre Macht über sie verlieren, wenn sie sich konfrontativ mit ihnen auseinandersetzen – die beiden letzten Punkte können transformativ ein Wachsen über diese Erfahrungen hinaus und neue Perspektiven für das eigene Leben und auf das Miteinander mit anderen Menschen eröffnen
Selbst wenn wir nicht von gemischten Räumen ausgehen und nur von der Perspektive von Menschen mit Diskriminierungs- bzw. Gewaltwiderfahrnissen aus denken, sollten bzgl. der beiden Konzepte verschiedene Spannungsfelder bedacht werden, im Folgenden einige unserer Gedanken dazu:
Sowohl der Safer- als auch der Braver-Space-Ansatz können durch Privilegierte zur Abwehr genutzt werden. Praktiker*innen einer rassismuskritischen Bildung in den USA schildern beispielsweise, wie auch weiße Personen, die auf ihr mikro-aggressives Verhalten angesprochen werden, auf das damit bei ihnen verursachte Unwohlsein mit einer Sprache von „getriggert werden“ reagieren und für sich ebenfalls safer spaces reklamieren. Außerdem können Safer Spaces dazu führen, sich mit Diskriminierungsthemen nicht mehr beschäftigen zu müssen, weil diese immer Schmerz aufrufen können – dieses Argument kann auch instrumentell von in einem Thema Privilegierten zur (möglicherweise auch unbewussten) Abwehr ins Feld geführt werden. Umgekehrt können Braver Spaces, wenn zu einseitig (und durchaus auch instrumentell aus Abwehr) ein ‚dickes Fell‘ gefordert wird, dazu führen, dass sich Menschen nicht mehr trauen, verletzende Handlungen zu problematisieren. Und beide Ansätze können unter Betroffenen mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien gegeneinander gerichtet werden und zu Konstruktionen politischer Feind*innenschaft führen unter Menschen, die eigentlich Verbündete sein könnten.
Es gibt Hinweise, dass ein Fokus auf Verletzlichkeit die Resilienz von Menschen, d.h. ihr Vermögen, schwerwiegende und belastende Situationen relativ unbeschadet durchzustehen, verringern könnte. Studienergebnisse legen beispielsweise nahe, dass Trigger- oder Inhalts-Warnungen in Menschen einen Verletzlichkeits-Modus aktivieren können, der sie dann die betreffenden Inhalte über längere Dauer als belastend erleben lässt als ohne vorherige Trigger- bzw. Inhalts-Warnung (Bridgland/ Takarangi 2021). Eine speziell auf die Wirkungen von Trigger-Warnungen bei traumatisierten Menschen ausgerichtete Studie beleuchtet, wie diese dazu beitragen können, dass dem erlebten Trauma im eigenen Selbstbild eine zentralere Bedeutung beigemessen wird, was für die Therapie von PTBS als erschwerender Faktor angesehen wird (Jones et al. 2020). Hier ist allerdings wichtig anzumerken, dass die entsprechende psychologische Forschung eher am Anfang steht. Wir haben dennoch den Eindruck, dass ein einseitiger Fokus auf Selbstschutz und Vermeidung von als riskant empfundenen Situationen es zum Teil erschweren kann, transformative Lernerfahrungen zu machen, in denen diesen Dingen die Macht genommen wird (siehe unten zur Frage der Phasen, in denen das möglich sein könnte oder tatsächlich auch vermieden werden sollte).
Umgekehrt kann ein Fokus auf Stärke und Resilienz zur Verdrängung der eigenen Verletzungserfahrungen führen, eigene Verletzlichkeit als Versagen individualisieren und damit Scham und Verschweigen sowie Victim Blaming befördern („Stell Dich nicht so an!“).
Untersuchungen von sogenannten post-traumatic-growth-Prozessen, d.h. erfolgreichen Überwindungen von Traumata, verweisen zudem darauf, dass dem Erleben von Selbstwirksamkeit eine zentrale Rolle zukommt (z.B. Sheik 2008). Dies gilt aber v.a. nach einer ersten Erholungsphase – hierfür können Safer Spaces ein zentrales Element sein. Für die Phasen danach kann aus der Wichtigkeit von Selbstwirksamkeit die Frage abgeleitet werden, inwieweit Bewältigungsstrategien, die dauerhaft auf Vermeidung beruhen, zu post-traumatic growth beitragen können. Andererseits kann gerade die erfolgreiche Gestaltung und Verteidigung von safer spaces ebenfalls Selbstwirksamkeitserfahrungen befördern.
Wenn alles vermieden werden soll, was Verletzungen aufrufen kann, kann dies dazu führen, dass Diskriminierung nicht mehr thematisiert und analysiert werden kann und dass Menschen ihre Diskriminierungserfahrungen nicht mehr aktiv verarbeiten können. Diskriminierung baut sich aber nicht ab, wenn niemand hinschaut. Im Gegenteil haben wir es derzeit ohnehin mit Verdeckungsmechanismen zu tun, also mit Mechanismen, die uns vorspielen, es gäbe in dieser Gesellschaft keine Ungleichheit mehr (vgl. z.B. Bitzan 2000, Hagemann-White 2006, Debus 2012), die umso größere Anstrengungen erfordern, um Diskriminierung und ihre Funktionsweisen greifen zu können.
Safer-Space-Konzepte können zu Ausschlüssen bzw. Sich-Nicht-Willkommen-Fühlen von Menschen führen, die eher konfrontativ-aneignende, Stärke- und Resilienz-betonende Bewältigungsstrategien haben bzw. für die es wichtig ist, zur Entmächtigung ihrer Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen möglichst frei über diese Erfahrungen bzw. die dahinterstehenden Ideologien, Schimpfworte etc. sprechen zu können. Braver-Space-Konzepte können ebenso ausschließend wirken auf Menschen, für die Selbstschutz vor schmerzhaften Themen wichtig ist und die ihre Verletzlichkeit anerkennen und einen gegenseitig achtsamen Umgang damit anstreben. Zumindest sollte anerkannt werden, dass nicht eines der beiden Konzepte das politisch ‚richtigere‘ ist, sondern dass beide unterschiedliche Vor- und Nachteile haben. Je nach Ausgestaltung sind sie auch immer wieder in einem Raum vereinbar.
Geschlechtliche Dimension: Safer-Space-Konzepte sind oft formähnlicher zu traditionellen Weiblichkeitsmustern zwischen Anerkennung von Verletzlichkeit, Betonung von Verletzlichkeit, dem Bemühen um achtsame Umgangsweisen, Fürsorglichkeit, einem Fokus auf Harmonie und Konfliktvermeidung, einem Wunsch nach Schutz sowie der Ablehnung von zu viel Selbstbewusstsein, Konfrontation und Konflikt (vgl. u.a. Debus 2012). Braver-Space-Konzepte sind oft formähnlicher zu traditionellen Männlichkeitsmustern zwischen der Betonung von Autonomie und Handlungsfähigkeit, einer gewissen Wertschätzung von Konflikt, der Aufforderung, für sich selbst zu sorgen, und der Abwehr und Ablehnung von Verletzlichkeit (vgl. u.a. Stuve/Debus 2012). Dabei sind Männlichkeitsanforderungen in dieser androzentrischen Gesellschaft eng verbunden mit gesellschaftlichen Normen z.B. für wirtschaftlichen oder politischen Erfolg. Es ist davon auszugehen, dass diese Ähnlichkeiten komplexe Effekte auf die Raumgestaltung, Präferenzen, Aushandlungen und das Erleben dieser Räume haben.
Beide Konzepte können genutzt werden, um innerhalb des Status Quo eingeschränkt handlungsfähig zu bleiben, also für sich den Eindruck von Handlungsfähigkeit zu erzeugen, ohne etwas an den Verhältnissen oder den eigenen Umgangsweisen damit zu verbessern. Oder sie können die Aneignung erweiterter Handlungsfähigkeit befördern, also einer Handlungsfähigkeit, die tatsächlich auch die Ursachen gesellschaftlicher Probleme und den eigenen Umgang damit so weit adressiert, wie es möglich ist (vgl. Holzkamp 1990, Debus 2014).
Intersektionalität vs. Safer Spaces: Intersektionalität meint, dass die meisten Menschen sowohl privilegierte als auch marginalisierte/diskriminierte Positionen in sich vereinen und diese Positionen sich in komplexen Verhältnissen überschneiden und beeinflussen (zum Weiterlesen: www.portal-intersektionalitaet.de). Was folgt daraus für die Gestaltung von Safer Spaces? Auch in auf eine Diskriminierungsdimension zielenden Safer Spaces (z.B. Frauenräumen, PoC-Räumen etc.) werden Menschen ein unterschiedliches Erleben von Erfahrungen und Widerfahrnissen sowie unterschiedliche Positionierungen hinsichtlich anderer Ungleichheitsverhältnisse mitbringen. Wie können unter diesen Umständen Räume gestaltet werden, die möglichst sicher für alle sind, ohne dass eine ‚Diskriminierungskonkurrenz‘ gefördert wird? Welche Konsequenzen hat es und wer wird möglicherweise implizit oder explizit ausgeschlossen, wenn gegenseitige Verletzbarkeit, Kontroversität, ‚Störungen‘ oder (teilweise) Privilegiertheit als Minderung des Safer Space empfunden werden?
Bündnisse & Voneinander-Lernen vs. Safer Spaces: Für gesellschaftliche Veränderungen im Kleinen wie im Großen sind Bündnisse zwischen Menschen hilfreich bzw. unerlässlich, die gesellschaftlich verschieden positioniert werden (z.B. in verschiedenen Ungleichheitsverhältnissen), aber gemeinsame Anliegen und Ziele haben. Außerdem besteht viel Potenzial darin, von- und miteinander zu lernen mit Menschen, die verschiedene Auseinandersetzungsgeschichten, gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen haben, verschiedenen Generationen angehören, unterschiedliche Ansätze verfolgen etc. Allerdings ist es in solchen gemischten Kontexten wahrscheinlicher, dass schmerzhafte Fehler aus Unwissen oder anderen Auseinandersetzungsgeschichten bzw. Bewältigungsstrategien passieren. Und es ist wahrscheinlicher, dass verschiedene Strategien für verschiedene Menschen richtig sind. Beides erhöht das Risiko von Verletzungen, Enttäuschungen und Konflikten. Es ist für solche gemischten Räume notwendig, sich gegenseitig nicht nur auf gesellschaftliche Zugehörigkeiten zu reduzieren, sondern – im Wissen um die dennoch vorhandene Wirkmacht gesellschaftlicher Dimensionen – auch als Individuen zu begegnen. Das erfordert Kraft und ist oft ein Balance-Akt.
Spektrum statt Entweder-Oder: Wir denken die Raumgestaltung zwischen Safer und Braver Spaces nicht als binäre Entscheidung für entweder komplett das eine oder andere Konzept, zumal sie aus unserer Sicht nicht klar abgrenzbar sind, sondern die Grenzen immer wieder verwischen. Wir denken sie eher als Spektrum.[6] Uns geht es in diesem Text auch nicht darum, dass die Leser*innen in Zukunft unbedingt mit diesen Begriffen hantieren sollen. Vielmehr wollen wir ein Framework anbieten, das dabei unterstützen kann, bewusste Entscheidungen zur Raumgestaltung und Abwägungen zwischen möglichen Potenzialen und Risiken verschiedener Optionen zu treffen.
4 Ableitungen für die Pädagog*innen-Bildung zu Diskriminierung
Wir gehen zunächst auf Bildungsarbeit insgesamt ein und grenzen diese von Therapie ab, um im nächsten Schritt Pädagog*innen-Bildung zu fokussieren.
4.1 Bildungsarbeit versus Therapie
Pädagogik und Bildungsarbeit sind kein therapeutisches und auch kein therapeutisches Selbsthilfe-Setting. Die Grenzen können leicht verwischen, sollten aber dennoch klar wahrgenommen und kommuniziert werden.
Die Aufgabe von Räumen der Bildungsarbeit ist es, Lernerfahrungen zu ermöglichen. Lernen zu Diskriminierung hat das Risiko und Potenzial, „Erfahrungen in die Krise führen“ (Haug 1981), indem die Sicht auf die Welt und die eigenen Erfahrungen oft neu sortiert werden muss. Ein solches Lernen produziert mit hoher Wahrscheinlichkeit Herausforderungen und Anstrengung, die auch Verwirrung und Angst auslösen können.
Diese Belastung kann bei akuten Traumata die Stabilität bedrohen. Aus der Tatsache, dass Bildungsarbeit keine Therapie ist, folgt dass es nicht möglich ist, generell bei akuten Traumata Schutz oder gar Heilung zu bieten. Pädagog*innen und Bildungsarbeiter*innen können in solchen Situationen nicht alle Bedürfnisse befriedigen. Sie können aber anbieten, gemeinsam zu sortieren, ob in der aktuellen Situation der von ihnen bereitgestellte Raum der Richtige ist und welche Angebote sie der betroffenen Person machen können. Und sie sollten dabei selbstverständlich eine Care-Haltung zeigen und schauen, ob sie bei einem akut aktivierten Trauma bei einer Erststabilisierung unterstützen können. Indem vorher Transparenz hergestellt wird, wie der Raum funktioniert (z.B. Ankündigung, dass auch über Diskriminierung gesprochen werden wird und Aufforderung zu schauen, ob das gerade das Richtige ist), kann es Menschen mit akuten Traumata ermöglicht werden, eigene bewusste Entscheidungen zu treffen.
Umgekehrt ist zu beachten, dass Räume, die zu sehr auf Robustheit setzen, oft gerade viele der Menschen ausschließen, die sich qua eigener Betroffenheit von Diskriminierung und Gewalt besonders viel mit diesen Themen auseinandersetzen mussten, während Menschen auf der jeweils privilegierten Seite oft einen einfacheren Zugang finden können.
Aus der Anerkennung der Begrenztheit pädagogischer Räume folgt auch, dass Bildungsarbeiter*innen und Pädagog*innen gewisse Grenzen achten sollten. Wir wollen und sollen Lernen und Wachstum ermöglichen. Wir haben aber von unseren Teilnehmenden nicht den Auftrag und die Erlaubnis erhalten, in ihre Persönlichkeit einzugreifen. Und wir sollten vorsichtig mit den möglichen Wirkungen unserer Impulse sein.
Dabei weisen allerdings viele Betroffene von Gewalt und/oder Diskriminierungen (in der Regel Menschen mit nicht aktuell akuten Traumata) Schonhaltungen bewusst zurück, weil sie ihnen Lerngelegenheiten verbauen und/oder die Handlungsfähigkeit absprechen. Gerade sie haben oft ein besonderes Interesse an transformativen Lernerfahrungen und der Entwicklung von Handlungsfähigkeit.
Es geht also um einen Balance-Akt zwischen Achtsamkeit und Lernangeboten, zwischen Potenzialen und Risiken von Safer und Braver Spaces.
4.2 Pädagog*innen-Bildung
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf Pädagog*innen-Bildung, die in der Regel in gemischten Settings stattfindet.
Es geht also nicht um politische Empowerment-Räume, Selbsthilfe-Räume oder ähnliches. Uns ist diese Unterscheidung wichtig.
Und es geht uns auch nicht um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, erst recht nicht in Zwangskontexten wie Schulklassen. Hier ist sowohl aufgrund des Machtverhältnisses zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen als auch aufgrund des Verbleibs der Teilnehmenden im Zwangskontext, wenn wir gehen und nichts mehr auffangen können, von einer deutlich erschwerten Selbstsorgefähigkeit der Adressat*innen auszugehen. Daher tendieren wir in solchen Kontexten deutlich stärker zu saferen Arrangements.
Aber jetzt zurück zur Pädagog*innen-Bildung:
Pädagog*innen-Bildung dient aus unserer Sicht der fachlichen Qualifizierung auf Wissens-, Haltungs- sowie methodisch-didaktisch-konzeptioneller Ebene und auf der Ebene des Umgangs mit den eigenen Arbeitsbedingungen.
Pädagog*innen-Bildung ist u.a. eine Arbeit mit Menschen, die hohe Macht gegenüber anderen Menschen haben (werden) und dabei gleichzeitig oft Ohnmachtserfahrungen machen (werden).
Wie eingangs beschrieben, gehen wir davon aus, dass alle Teilnehmenden Verletzungen mitbringen, dass sich diese nach gesellschaftlicher Position und Individualbiografie unterscheiden und dass der Umgang der Teilnehmenden mit diesen Verletzungen ihren Umgang mit Diskriminierung beeinflusst.
Da uns alle Themen, die uns in Fort- und Weiterbildungen begegnen, auch jederzeit in der eigenen Pädagogik und Bildungsarbeit begegnen können, ist es aus unserer Sicht besonders wichtig, dass Pädagog*innen einen aktiven Umgang mit ihren Verletzlichkeiten finden. Vermeidung halten wir an dieser Stelle für eine nur begrenzt funktionale Strategie. Eine mangelnde Auseinandersetzung mit den eigenen Verletzlichkeiten kann zudem schnell auf Kosten der (zukünftigen) Adressat*innen gehen, wenn z.B. aus Vermeidungsgründen bestimmte Thematisierungen für die Adressat*innen unmöglich werden, der Raum für Emotionen geschlossen bleibt, die Bildungsarbeiter*innen überfordert damit sind, Emotionen zu halten, oder wenn sich die Verletzlichkeit in Aggression gegen Teilnehmende wendet, die verletzliche Themen berührt oder aktiviert haben.
Gleichzeitig sollten Menschen nicht durch hohe Robustheitserwartungen aus der Pädagog*innenbildung ausgeschlossen werden, schon aus Gerechtigkeitsgründen – es träfe ja gerade wieder vorrangig Menschen mit Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnissen. Insbesondere aber auch, weil gerade Menschen, die bestimmte Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen gemacht und be-/verarbeitet haben, ihren (zukünftigen) Adressat*innen besonders gut Lernangebote zum Umgang mit ihren eigenen Widerfahrnissen machen können. Und sowieso entspricht es nicht unserer Haltung in der emanzipatorischen Bildung, uns über unsere Teilnehmenden zu erheben und ihnen achtlos Schmerz zuzumuten.
Es gilt also, eine Balance zu finden: In der Pädagog*innen-Bildung zu Diskriminierung kann nicht dauerhaft vermieden werden, sich mit eigenen Verletzlichkeiten rund um Diskriminierung und Gewalt zu beschäftigen, dies ginge auf Kosten notwendiger Qualifizierungsschritte und auf Kosten der (zukünftigen) Adressat*innen. Gleichzeitig sollte auch nicht achtlos mit den daraus erwachsenden Belastungspotenzialen umgegangen werden und es gilt, die Selbstbestimmung und den Selbstschutz der (werdenden) Pädagog*innen zu achten.
4.2.1 Selbstregulation
Aus unserer Sicht sollte sich Pädagog*innen-Bildung daher bewusst an der Grenze bewegen: Einerseits sollten die Teilnehmenden Lerngelegenheiten angeboten bekommen, die durchaus herausfordernd sein können. Andererseits sollten sie Spielräume bekommen, sich bestimmten Situationen entziehen zu können, und sie sollten bei Dingen, die tiefer die eigene Psyche berühren (z.B. Biografie-Arbeit) niedrigschwellige Optionen zur Selbstregulation erhalten (z.B. verschiedene Fragen unterschiedlicher Themenfelder und Intensitätsgrade zur Auswahl).
4.2.2 Raum für Gefühle & transformatives Lernen
Es sollte im Lernen zu Diskriminierung und Ungleichheit Raum für Schmerz, Traurigkeit, Wut, Solidarität, Nähe und Glücksgefühle geben.
Gerade in Räumen, in denen ein aktiver Umgang mit Verletzlichkeit möglich ist, kann transformatives Lernen stattfinden.
Schon die Erfahrung, in einem professionellen Kontext Trauer oder Empörung über Unrechtserfahrungen mit anderen zu teilen, kann eine transformative Erfahrung sein, die das eigene Verhältnis zu sich selbst und zu Professionalität transformieren und Vereinzelungsgefühle unterlaufen kann.
Darüber hinaus kann Wachstum dadurch stattfinden, persönliche Wagnisse einzugehen und Dinge auszuprobieren, die jenseits der eigenen Komfortzone liegen.
Nicht zuletzt kann es transformativ sein zu erleben, Handlungsfähigkeit im eigenen Umgang mit Krisen-Momenten zu erlangen bzw. das Umgangs-Repertoire zu erweitern. Idealerweise kann dabei gelernt werden, (zumindest teilweise) zu regulieren, wann ich in einem Krisen-Moment eher Verletzlichkeit zulasse und mein Funktionieren-Müssen eine Weile ausschalte, wann ich eher in einen Modus der Stärke und des Dranbleibens gehe, wann ich eher eine distanzierende Forschungsbrille aufsetze oder aber auf Verbindung zu anderen fokussiere.
Es kann aber auch die Erkenntnis reifen, einen bestimmten Teil des eigenen Lebens intensiver weiterbearbeiten zu müssen, unter Umständen auch mit professioneller therapeutischer Begleitung.
4.2.3 Wenn das Kartenhaus wackelt
Es wird in vielen Teilen dieser Gesellschaft sehr nahegelegt, in Bezug auf Diskriminierungs- und Gewaltwiderfahrnisse Verletzlichkeit, Trauer und Wut abzuwehren und sich irgendwie mit dem Status Quo zu arrangieren. Das kann eine (zumindest zeitweise) sehr funktionale Strategie sein.
Sie kann aber den Effekt haben, dauerhaft alle Kraft in das Zusammenhalten eines Kartenhauses zu stecken, das bei jedem Windzug wackelt. Angst und daraus folgend Wut richtet sich dann leicht gegen die, die die Brüchigkeit des Kartenhauses und Alternativen aufzeigen.
Das ist sehr verständlich, kann sich in der Pädagogik aber gerade gegen die richten, die anti-diskriminierende Unterstützung bräuchten, indem in der Abwehr der eigenen Verletzlichkeit auch die kritische Auseinandersetzung mit diskriminierenden und gewalttätigen Verhältnissen abgewehrt wird.
Immer wieder ist es Teil von Empowerment-Prozessen, dass solche Kartenhäuser krisenhaft zusammenbrechen, dass Wut, Trauer, Verletzlichkeit etc. zugelassen werden, damit Wachstum stattfinden kann und die Bedingungen verändert werden können, die die Verletzungen zugefügt haben und weiter zufügen. Bzw. zumindest das eigene Leben auf ein etwas festeres Fundament zu stellen, sich bessere Nischen zu schaffen und die eigene Handlungsfähigkeit im Umgang mit den gesellschaftlichen und institutionellen Zumutungen auszubauen. Aber das ist meist sehr schmerzhaft und riskant.
Auch Kartenhäuser zusammenbrechen lassen und neue, stabilere Häuser zu bauen kann ein essentieller Prozess transformativen Lernens sein. Allerdings ist leider nicht immer absehbar, ob ein solcher Prozess gelingen wird oder Menschen möglicherweise in gefährdende oder zumindest belastende langwierige Krisen geraten.
Als Bildungsarbeiter*innen haben wir weder den Auftrag noch das Recht, mutwillig einen solchen Prozess auszulösen. Es ist aus unserer Sicht ein No-Go, Selbstschutzstrategien der Teilnehmenden gezielt zu unterlaufen und sie zu überwältigen, also ihnen keine Selbstregulations-Optionen zu ermöglichen. Solche Prozesse können massiv destabilisierend wirken und wir können als Bildungsarbeiter*innen überhaupt nicht absehen und unterschätzen oft, welche Tragweite ein solcher Prozess bei den einzelnen Teilnehmenden haben könnte. Aber umgekehrt alle möglichen Auslöser solcher Prozesse zu vermeiden, verbaut aus unserer Sicht den Teilnehmenden die Möglichkeit zu wachsen.
5 Resümee
In diesem Sinne plädieren wir dafür, in der Bildungsarbeit mit Pädagog*innen bzw. Bildungsarbeiter*innen achtsam, grenzachtend und risikobewusst vorzugehen, aber ihnen dennoch Herausforderungen und Gelegenheiten für transformatives Lernen anzubieten und dabei eine Schonhaltung zu vermeiden.
Das beinhaltet allerdings auch unsere Bereitschaft, mit Krisen aktiv umzugehen und Emotionalität zuzulassen. Und Zeit vorzusehen, einen Umgang mit Krisen zu finden.
Folge dessen kann sein, dass diese Emotionalität sich gegen uns richtet, wenn wir etwas tun, was die persönlichen Bewältigungsmuster der Teilnehmenden in Unruhe bringt.
Besonders wichtig ist uns, in der Pädagog*innen-Bildung vorher so transparent wie möglich zu sein, wie wir arbeiten werden, damit die Teilnehmenden für sich informierte Entscheidungen treffen können, unsere Arbeitsweise gut zu begründen und mit einer Care-Haltung heranzugehen.
6 Literatur
Einige der Gedanken aus diesem Text finden sich auch im folgenden Podcast: Klemm, Sarah/Wittenzellner, Ulla/Saadi, Iven/Debus, Katharina (2022): Folge #12–14: Lernen zu Diskriminierung I-III. Im Rahmen des Podcasts Alles für Alle – Im Dissens mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen von Dissens – Institut für Bildung und Forschung. 28.03.2022, 28.04.2022, 06.07.2022. Online unter: https://dissens.de/podcast.
Bitzan, M. (2000): Geschlechtshierarchischer Verdeckungszusammenhang. Überlegungen zur sozialpädagogischen Mädchen- und Frauenforschung. In: Lemmermöhle, D./Fischer, D./Klika, D./ Schlüter, A. (Hrsg.): Lesarten des Geschlechts. Zur De-Konstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Opladen: Leske + Budrich. S.146-160.
Bridgland, V.M.E./Takarangi, M.K.T. (2021). Danger! Negative memories ahead: the effect of warnings on reactions to and recall of negative memories. In: Memory, 29:3, 319-329
Clark, D.A./Spanierman, L. (2018): “I Didn’t Know That Was Racist”. Costs of Racial Microaggressions to White People. Influence and Implications. In: Torino, G.C./Rivera, D.P./ Capodilupo, C.M./Nadal, K.L./Sue, D.W. (Hrsg.): Microaggression Theory. Influence and Implications. New Jersey: John Wiley & Sons. S. 138-156.
Debus, K. (2012): Und die Mädchen? Modernisierungen von Weiblichkeitsanforderungen. In: Dissens e.V./Debus, K./Könnecke, B./Schwerma, K./Stuve, O. (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Berlin: Dissens e.V. S.103–124. Online unter: https://jus.dissens.de/material/abschlusspublikation.
Debus, K. (2014): Rechtsextremismus als Suche nach Handlungsfähigkeit? Subjektive Funktionalität von Verhalten als Ausgangspunkt von Rechtsextremismusprävention. In: Debus, K./Laumann, V. (Hrsg.): Rechtsextremismus, Prävention und Geschlecht. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. S.61–99. Online unter: www.boeckler.de/pdf/p_arbp_302.pdf.
Hagemann-White, C. (2006): Sozialisation – Zur Wiedergewinnung des Sozialen im Gestrüpp individualisierter Geschlechterbeziehungen. In: Bilden, H./Dausien, B. (Hrsg.): Sozialisation und Geschlecht. Opladen: Barbara Budrich. S.71–88.
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Stuve, O./Debus, K. (2012): Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierende Pädagogik mit Jungen. In: Dissens e.V./Debus, K./Könnecke, B./Schwerma, K./Stuve, O. (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Berlin: Dissens e.V. S.43–60. Online unter: https://jus.dissens.de/material/abschlusspublikation.
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[1] Eine Einführung in unser Verständnis von Diskriminierung und Intersektionalität findet sich u.a. im folgenden Videovortrag: Debus, Katharina (2021): Diskriminierung und fachliches Handeln in Medizin und Psychologie. Onlinevortrag. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Rassismus und Wissenschaft“ der Medizinischen Hochschule Brandenburg. 17.08.2021. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=q_xR5LJfamg. Wir bitten darum, den Korrekturhinweis im Textfeld unten zu beachten. Dort finden sich auch diverse Links zu zitierten Quellen im Vortrag.
[2] Vgl. z.B. www.deutsche-traumastiftung.de/traumata.
[3] Vgl. z.B. https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/.
[4] Vgl. u.a. https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs/ – auch der Wikipedia-Eintrag bietet aus unserer Sicht einen guten Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatische_Belastungsst%C3%B6rung.
[5] Vgl. z.B. Mickey ScottBey Jones: https://www.wnccumc.org/files/websites/www/brave+space.pdf. Als Beispiel eines Übertrags in den deutschsprachigen Raum s. www.awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/02/Safer-Braver-Spaces-Awareness-Basel.pdf.
[6] In diesem Sinn verstehen wir auch die aktuell unter dem Begriff emergent space diskutierte Option jenseits der Binarität von entweder safer oder braver. Vgl. hierzu z.B. www.nationalsurvivornetwork.org/emergentspace.